Die Methoden von „Corona-Skeptikern“ „Wer nicht denken kann, kann immer noch querdenken“

Gesellschaft

Viele „Corona-Skeptiker“ fordern von Experten, sie müssten 100%ige Treffergenauigkeit garantieren können.

Hygienedemo in Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz, April 2020.
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Hygienedemo in Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz, April 2020. Foto: C.Suthorn-commons.wikimedia.org (CC BY-SA 4.0 cropped)

23. August 2020
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Diese Erwartung ist bei epidemiologischen Voraussagen zu einem neuen Phänomen wie Corona sachfremd. Es gibt beim gegenwärtigen Stand Unterschiede zwischen Experten. Viele „Corona-Skeptiker“ machen nun aus diesen Differenzen in den Expertisen Gegensätze, aus Gegensätzen Widersprüche und aus Widersprüchen Skandale. Schliesslich stilisieren sie dies als Beleg für die von vornherein unterstellte Inkompetenz, böse/geheime Absichten, diktatorische Tendenzen etc. pp.

„Corona-Skeptiker“ leiden unter dem Gefühl, nicht durchzublicken angesichts der Komplexität von Virologie und Epidemiologie. Dieses Gefühl ist verständlich. Kindisch, nicht kindlich, ist aber die Bewältigungsform, sich und anderen einzureden: Eigentlich gibt es kein Problem und die Corona-Gefahren werden nur herbeigeredet, aufgebauscht oder erfunden. Die Maxime lautet dann: Corona nervt mich, also will ich davon nichts mehr wissen. Und suche nach Überzeugungen, die zu diesem Gemütszustand passen und ihn gegen Störung immunisieren.

Interessant finde ich es, sich einmal nicht die Wortführer des Protestes gegen die Coronamassnahmen anzusehen, sondern den blog eines unprominenten „Corona-Skeptikers“. Dort finden wir in Serie Texte mit Überschriften wie „Wer ist denn eigentlich dieser Karl Lauterbach?“ (3.8.20). Der Text beginnt so: „Hartnäckig hält sich in den Medien das Bild von Karl Lauterbach als das eines Experten. Die absurdesten Meinungsäusserungen können das offenbar nicht beschädigen.“ Wer die auf diesem Blog täglich mehrfach geäusserten Lagebeurteilungen liest, bekommt die Botschaft eingehämmert: Lauterbach, Drosten und andere Experten seien alles Versager.

Es mag ja gute Gründe dafür geben, Vorbehalte gegenüber Wissenschaftsgläubigkeit zu haben. Die Schwierigkeit von Laien jedoch, sich bei komplexen naturwissenschaftlichen Fragen der Virologie oder Epidemiologie durchzufinden – davon legt sich der Enthüllungsblogger keine Rechenschaft ab. Er puzzelt mit allerhand Informationspartikeln herum und versucht sie zusammenzubringen. Das gelingt ihm nicht. Er wird seiner Fragen nicht Herr: Warum passt das eine Informationspartikel nicht zum anderen?

Warum steht die eine Hypothese im Gegensatz zur anderen? Die Hilflosigkeit seines Herumbastelns mit den vielen disparaten Informationen erschöpft ihn und macht ihn aggressiv. Den Ausweg sieht er darin, überall bei den weltweit anerkannten Virologen und Epidemiologen Ungereimheiten, „Absurditäten“ und ähnliches zu (er)finden. Auf die Idee, dass es an seiner eigenen Inkompetenz liegt, kommt der Blogger auf seiner o. g. Seite nicht.

Aus „Ich verstehe das nicht, weil ich etwas, das mir als Gegensatz vorkommt, nicht auflösen kann“ gehen Anti-Experten gern über zu „Das ist nicht zu verstehen, weil es absurd und ungereimt ist“. Für Eigenbrötler, die in ihrem do-it-yourself-Vorgehen („alles muss ich selbst machen“) unbedingt jenseits und getrennt von den Wissenschaften sich die Fragen beantworten wollen, die allein, wenn überhaupt, diese Wissenschaften klären können, gilt erfahrungsgemäss: „Sie begeben sich gar nicht in die Dinge selbst, in die Fragen selbst hinein, sondern glauben darum über ihnen zu sein, weil sie nicht in ihnen sind“ (Theodor W. Adorno: Vorlesung zur Einleitung in die Soziologie (im Sommersemester 1968), Raubdruck Frankfurt M. 1973, S. 119f.).

Vielleicht wird der Blogger demnächst dazu übergehen, seine Suche nach „Fehlern“ und „Manipulationen“ auf die Astrophysik und die Evolutionstheorie auszudehnen. An Paralleluniversen, in denen die Erkenntnisse von Naturwissenschaften aus esoterischen Perspektiven mit grosser Selbstsicherheit bestritten werden, besteht ja kein Mangel. „In Basel gibt es etwa einen Verband anthroposophischer Kunsttherapeuten mit über 150 Mitgliedern, der auf seiner Internetseite für ‚Covid-19-Gegendarstellungen' wirbt und all jenen eine Plattform bietet, die in der Coronakrise reine Panikmache sehen“ (Basler Zeitung, 3.6.2020).

Der Blogger möchte die Expertise von weltweit anerkannten Virologen und Epidemiologen infrage stellen. Das kann er mangels fachlicher Qualifikation nicht. Überfordert von der virologischen und epidemiologischen Fachdiskussion, verlagern Coronaskeptiker die Debatte gern auf die Personen. So versucht der blogger sich daran, Christian Drosten, Karl Lauterbach und anderen am Zeug zu flicken und gibt den Wadenbeisser. Zig Einträge im genannten Blog bieten bspw. vermeintliche Enthüllungen über die Habilitation und Dissertation von Drosten.

Der Blogger möchte Anzeichen präsentieren, die den vagen Anfangsverdacht erwecken sollen, da könne es irgendwie nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Er verbleibt im raunenden Ton der unendlichen Möglichkeiten. Im Kreis seiner vielen Ahnungen irrt endlos herum, wer nicht Bescheid weiss. Auf inflationäre Art wird die für Corona-Skeptiker typische Taktik der Andeutung oder des „Sagens, ohne es zu sagen“ bedient. Der Blogger möchte den Eindruck erwecken, die Milliardäre Quandt hätten Drosten einen Lehrstuhl gekauft. Vielleicht haben sie auch sein gegenwärtiges Renommee bewirkt.

Am 8.8. fängt ein Artikel auf dem genannten Blog so an: „Man hatte es fast vergessen. Doch des Präsidenten Steinmeiers Fauxpax im Tiroler Urlaub ohne Abstand und Mundschutz ruft die Erinnerung hervor, dass er Wiederholungstäter ist. Am 14.5. war er bereits einmal solcherart aufgefallen, als er die Berliner ‚Corona-Notfallklinik' besuchte.“

Warum hält jemand das für mitteilenswert? Soll ein nebensächliches Versehen eines Repräsentanten der bundesdeutschen Politik gegen ihre Inhalte sprechen? Die Sorge des unsicheren Individuums – bloss bei keiner Peinlichkeiten „ertappt“ werden – wird hämisch gegen Politiker gewendet: „Siehste, nun habe ich Dich!“ Der Angsthaber möchte den Angstmacher geben. Ihre Zustimmung zum von der Politik Gebotenen wollen ansprüchelnde Zeitgenossen davon abhängig machen, ob die Politiker in ihrem Benehmen 100%ig tadellos sind.

Man möchte sich mit den Politikern identifizieren können. Das Verhältnis der Unterordnung soll als mentale und kulturelle Übereinstimmung mit Vorbildern interpretiert werden. Man dünkt sich nun schon dann als souverän und überlegen, wenn man den Politikern den einen oder anderen „fauxpas“ nachsagen zu können meint. Solche Manöverkritiker gefallen sich darin, den Blick auf Politiker vorzuführen, den wir aus Medien wie der Bildzeitung oder „Der Spiegel“ kennen.

Diese Medien bedienen ihre Leser, die vom Politikbetrieb nicht viel verstehen und noch weniger begreifen, mit Anekdoten. Die Leser sollen mittels „human-interest-Stories“ sich auf die gleiche Stufe mit dem politischen Führungspersonal stellen können. Kultiviert wird die Perspektive des Kammerdieners. „Es gibt keinen Helden für den Kammerdiener; nicht aber weil jener nicht ein Held, sondern weil dieser – der Kammerdiener ist, mit welchem jener nicht als Held, sondern als Essender, Trinkender, sich Kleidender, überhaupt in der Einzelheit des Bedürfnisses und der Vorstellung zu tun hat. So gibt es für das Beurteilen keine Handlung, in welcher es nicht die Seite der Einzelheit der Individualität der allgemeinen Seite der Handlung entgegensetzt“ (Hegel, Phänomenologie). Unser Anti-Coronapolitik-Blogger meint partout, es spreche gegen die Politik eines Politikers, dass diesem mal die Maske verrutscht.

Der genannte Blog häuft internetsüchtig-staubsaugerhaft alle mögliche Informationen auf bei gleichzeitiger Unfähigkeit dazu, sie in ihren sachlichen Kontexten begreifen zu können. Der Blogger spielt mit manisch wirkender Betriebsamkeit Hobby-Detektiv. Kultiviert wird die Logik des Verdachts. Diese kann nicht anders, als überall bestätigende Indizien zu wittern. Solche Blogs liefern das geistige Futter für Wirrköpfe. Sie sehen ihren Gegner ausgerechnet in Forschern und Politikern, die sich für Massnahmen zur Sicherung der Gesundheit in der Bevölkerung einsetzen. Bedient wird der Renitenzmodus von Leuten, die aus Bequemlichkeit, Dummheit oder Egozentrik sich nicht an die Corona-Regeln halten.

Eine verwilderte FDP/AfD-Mentalität tobt sich aus, die im „Widerstand“ gegen Massnahmen zur Sicherung der Gesundheit der Bevölkerung offenbart, was sie für einen Charakter hat: Den Beteiligten ist die Gesundheit anderer egal. Hauptsache, man nutzt die Gelegenheit, sich als Nonkonformist zu inszenieren. Das lässt sich z. B. dadurch erreichen, dass man ein pauschales Misstrauen zeigt gegenüber allen Aufforderungen, die vom Staat kommen, egal welchen Inhalt sie haben. Mit der gleichen Haltung sehen entfesselte Bürger Steuern als Diebstahl am Privateigentum an, Waffengesetze als Einschränkung ihrer Freiheit und Geschwindigkeitsbegrenzungen als Anschlag auf ihre Individualität.

„Wer nicht denken kann, kann immer noch querdenken“, sagte Hermann Gremliza schon 1994. Bereits in den 1990ern Jahre schaffte es ein kreuzbraver Fernsehpfarrer (Jürgen Fliege), sich auf seinem Buchcover als „vorlauten Pfarrer“ zu loben und zu verkünden: „Quer und bunt … müssen wir sein“ (Der Spiegel, Nr. 19, 1996, S. 224). Eine auch heute noch lesenswerte Analyse über „Die Konjunktur der Querdenker“ hat Martin Hecht 1997 unter dem Titel „Unbequem ist stets genehm“ vorgelegt (Rowohlt-Vlg. Reinbek bei Hamburg). Neu ist die Tour nicht, einzelne Momente des bundesdeutschen Bewusstseins gegen andere seiner Momente auszuspielen. Viele Corona-Skeptiker widmen sich dem Anliegen, Freiheit als Unverantwortlichkeit zu verstehen. Sie wollen ihre Bürgerfreiheit ohne rechtliche Einschränkungen. Genauso könnten sie auch für Kernkraftwerke ohne Radioaktivität eintreten.

Der wirrste Einfall, die krudeste Mutmassung und die verstiegenste Interpretation werden beklatscht, Hauptsache es lässt sich ein wildes Sperrfeuer gegen die gegenwärtige Coronapolitik veranstalten. In den Reihen der „Corona-Skeptiker“ finden sich die unterschiedlichsten Sorten von Ablehnenden und Unzufriedenen zusammen. Undeutlich bleibt, was ihrer Auffassung zufolge positiv getan werden soll. Was schlagen sie vor?

Befürworten sie die Position von Wolfgang Kubicki (FDP): „Menschen müssen für sich selbst sorgen. Wenn jemand Angst hat, soll er eben zu Hause bleiben“ (in der Sendung „Anne Will“ vom 10.5.2020)?

Wollen sie ein Vorgehen wie in Schweden?

„Auf die Einwohnerzahl gerechnet starben bis heute etwa fünfmal so viele Infizierte wie in Deutschland oder Dänemark. Auch die Gesamtzahl der Infektionen liegt um ein Vielfaches höher“ (Der Tagesspiegel, 12.8.2020). Wollen sie den Konsum von hochkonzentriertem Alkohol empfehlen zur vermeintlichen Desinfizierung des Körpers? Dieser Tipp kostete weltweit 800 Menschen das Leben. Rund 5.900 landeten nach dem Trinken von Methanol im Krankenhaus, 60 erblindeten.

Wollen sie einen Verlauf der Epidemie wie in den USA oder Brasilien?

Meinungsfreiheit heisst: Jeder hat das Recht auf Dummheit und darf den grössten Unsinn äussern. Mit dem Ruf nach „Meinungsfreiheit“ wollen viele Feinde der gegenwärtigen Massnahmen gegen die Ausbreitung von Corona sich gegen Kritik an ihren Thesen immunisieren. Diese Kritik ist nicht nur richtig, sondern notwendig und dringend geboten. Die übergrosse Mehrheit der Bevölkerung hält die Massnahmen zur Eindämmung der Corona-Infektionen für richtig. Anti-Coronapolitik-Fanatiker stärken den kleinen Teil der Bevölkerung, der durch seine Nachlässigkeit und Rücksichtslosigkeit die Ausbreitung der Epidemie fördert. Sie spielen mit dem Feuer. Ihre Agitation und Propaganda ist brandgefährlich. Sie verhalten sich wie Geisterfahrer.

Kai Paulsen

PS: Zur Widerlegung der von Corona-Skeptikern verbreiteten Falschmeldungen vgl.
https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/faktencheck-zu-fake-news-rund-um-corona-100.html
https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/id_87645780/coronavirus-fake-news-corona-tests-mallorca-5g-co-faktencheck.html